TIME TO BREATHE | Warum ich mich dazu entschieden habe, ein "Gap Year" einzubauen. Oder zwei.


"Was möchtest du denn nach dem Abitur machen?" fragen sie alle immer beim Kaffee & Kuchen. Wenn ich dann antworte, dass ich erst einmal ein Jahr Pause mache, ernte ich entgeisterte Blicke: "Das hat es früher bei uns nicht gegeben! Was machst du denn dann mit all der Zeit?" Ich weiß es genau. Nicht nach der Pfeife anderer tanzen. Endlich mal tun, was ich möchte. Keine Gleichungen lösen, keine Wahrscheinlichkeiten berechnen, keine zellulären Vorgänge beschreiben, keine Stammbäume malen, keine Stoffmengen berechnen, keinen philosophisch-pauschalisierenden Texten unfreiwillig zustimmen. Damit ist es jetzt vorbei.
Ich will nicht mit Daten und Fakten überhäuft werden, sie ständig abrufbar speichern, um sie einmalig wiederzugeben und sie danach zu vergessen um den Kopf freizumachen für all die neuen Daten und Fakten und mir dann sagen lassen, wir alle würden verdummen. "Biologie 7. Klasse, komm schon, das ist Grundlage, das muss man wissen." Klar. Ich habe Biologie ja auch nicht nur gewählt, weil ihr alle so wahnsinnig auf eure Naturwissenschaften fokussiert seid, ich mindestens zwei davon wählen muss und Bio eben das kleinste Übel war, sondern weil es mich so wahnsinnig-ultra-mega-brennend interessiert.

Während ich also zwei Jahre lang im Neigungskurs Biologie saß und mich auf das Ende gefreut habe, musste ich mir ständig anhören, dass Kunst vierstündig ja nur was für Leute ist, die halt sonst nicht so viel im Kopf haben. Bereits in der neunten Klasse wurde uns eingetrichtert, nur mit naturwissenschaftlichen Berufen wirklich Erfolg zu haben. Uns wurde erklärt, wir sollen anstatt eines kreativen Berufes mit Kunst oder Musik doch lieber Chemie studieren. Ansonsten würden wir arbeitslos werden. Als es in der zehnten Klasse an die Wahlen für die Oberstufe ging, haben wir uns umgehört, ob denn in unserer Stufe ein Neigungskurs in Gemeinschaftskunde zustande kommen könnte. Als wir dem Konrektor eine Unterschriftenliste mit 30 Namen vorgelegt haben, wurde unser Wunsch so erstickt: "Wer Neigungskurs Gemeinschaftskunde hat, wird später Hartz-IV-Empfänger."
Vielen Dank an der Stelle, dass ich mich die letzten 8 Jahre auf dem Gymnasium ständig so wahnsinnig dumm fühlen durfte. Aber ehrlich gesagt bin ich lieber dumm, als mich zu zwingen, etwas zu tun, das mich nicht wirklich glücklich macht. 

Mir wurde all die Jahre erklärt, dass ich einfach nicht hierher passe. "Wenn du kreativ sein willst, geh doch nach Berlin." Der sarkastische Unterton wird mich wahrscheinlich noch verfolgen, wenn ich dann in Berlin bin ;-) Das Ergebnis jahrelanger Erfahrung ist also, dass hier in Baden-Württemberg nur die Naturwissenschaftler, Ingenieure und BWLer gebraucht werden und jedes Entstehen von Kreativität im Keime erstickt wird. Schade. Das macht euch alle so wahnsinnig hässlich, obwohl Bildung doch eigentlich das schönste Geschenk ist, was wir hier haben. All das bringt vermutlich aber nichts, wenn man die Sache so angeht, wie ihr.

Was das alles noch verstärkte, war Folgendes. Als Sängerin der Schulband kannten mich sowohl Lehrer und Schüler als das selbstbewusste Mädchen, das auf der Bühne stand und so wahnsinnig gut als Maskottchen fungierte. Bei jedem Schulfest, jeder Veranstaltung wurde ganz laut angepriesen, wie stolz man doch auf die musikalischen Talente an der Schule sei. Dann kam die Zeit, in der ich aufgrund meiner Teilnahme bei The Voice of Germany oft vom Unterricht befreit werden musste und dann war mein Talent plötzlich ein Problem. Die Schulleitung unterstützte mich im Normalfall, doch viele Lehrer waren davon nicht sehr begeistert. Und so ging es vielen Musikern an dieser Schule. Unsere Aufgabe war also: Zeigt, wie toll und begabt unsere Schule ist, aber fördern wollen wir euch dabei eigentlich nicht.

Was ganz schnell deutlich wurde: Kreativität, Musik, Kunst gehört nicht in die Schule und hat nichts mit Bildung zu tun. Das ist nur in der Freizeit genehmigt. Viel davon hatte der Durchschnittsschüler allerdings nicht. Die Zeit, die ich zum Lernen gebraucht hätte, ging bei mir eben oft für die Kreativität drauf. Ein Preis, den ich allerdings nicht bereue, gezahlt zu haben. Jedoch habe ich es deutlich gemerkt, wenn in Klausurenphasen die Kreativität zu kurz kam. Ich war wahnsinnig unausgeglichen, konnte mich nicht mehr konzentrieren, irgendwann war mein Kopf zu voll. Voll mit Dingen, die mich nicht im geringsten interessierten. Voll mit Dingen, die ständig als überlebenswichtig deklariert wurden, ohne die ich jetzt aber doch relativ gut und selbständig atmen, essen und trinken kann. Wer hätte das gedacht?

Vielleicht wäre ich nicht ganz so angepisst von diesem Schulsystem, wenn ich einiges anders gemacht hätte. Wenn ich realisiert hätte, dass mich nicht alles interessieren muss. Wenn ich realisiert hätte, dass es okay ist, kreativ zu sein und dass ich stolz darauf sein kann. Dass nicht "Mathe das wichtigste Fach sei" und gute Noten in den eher kreativeren Fächern nicht so viel Wert seien. Quatsch. Erst die letzten zwei Jahre wurde mir bewusst, dass es nicht schlimm ist, wenn ich Bereiche habe, in denen ich nicht gut bin. In der letzten Bioklausur habe ich ganze 04 Notenpunkte erreicht. Das ist meine schlechteste Note, ich war am Ende sogar in Mathe besser. Und wisst ihr was? Das ist mir so richtig egal.

Was mir nicht egal ist, ist meine Zukunft. Die ist zum Glück eine, die ich voll und ganz selbst bestimmen kann. Und zwar im kommenden Jahr so, dass ich mich an gar nichts anpassen muss, außer an meine eigene Zufriedenheit. Es ist mir extrem wichtig, dieses eine Jahr "Pause" einzubauen. Dabei ist es eigentlich gar keine "Pause". Es ist für mich der Start. Ich kann jetzt endlich für mich selbst entscheiden, was ich als überlebenswichtig und relevant ansehe. Ich kann jetzt endlich wählen, welche Informationen ich für nötig halte und welche mich einschränken. Versteht mich nicht falsch, ich will nicht sagen, dass in der Schule alles schlecht ist - es ist bloß zu wenig optimiert. Zu wenig individuell, zu sehr auf die Massenbildung ausgeprägt. Und das entspricht nun wirklich nicht mehr der heutigen Zeit. Es ist kein Mythos, dass sich unsere gesamte Welt immer mehr spezialisiert und in detailreiche Bereiche aufteilt. Die Studiengänge haben nun komplizierte Unterbegriffe und alle Berufe sind nun nur noch für einen kleinen Teil zuständig. Warum also nicht auch unsere Bildung anpassen und den Schülern ermöglichen, sie selbst zu sein? (Rhetorische Frage. Ich weiß, es hängt am Geld.)

Jedenfalls ist es jetzt meine Zeit gekommen. Und ich hoffe, ihr werdet euch eure Zeit ebenso nehmen. Es klingt banal, aber wir haben noch ein so verdammt langes Leben. Warum also mit Mitte 20 fest in der Berufswelt stecken und bis zum Ende langweilen? Bis zum Ende als Maschine fungieren, als Staatsdiener, als Kapitalismuszahnrad. Und dabei nicht mal wissen, wofür man selbst eigentlich noch lebt. Fürs Überleben. Man lernt nichts Neues, man sieht immer nur dieselben vier Wände, man hat alle Prozesse optimiert. Man lebt um zu überleben. Um sich selbst und die Kinder zu ernähren, um die Miete, Strom und Gas (wenn es das bis dahin noch gibt) zu bezahlen und sich hier und da mal etwas materiellen Luxus zu gönnen. Bravo. Das ist das Lebensziel der ganz Großen.

Wenn euch also das nächste Mal jemand versucht, weiszumachen, dass ihr keine Zeit habt, für ein Jahr für euch nach der Schule, nach der Ausbildung, nach dem Studium, dann denkt daran, dass euch nichts so viel weiterbringen wird, wie Abwechslung. Investiert nicht nur Zeit in eure theoretische Bildung, sondern legt mindestens genauso viel Wert auf euch, auf eure Seele, auf die praktische Seite, auf die Erfahrung.

Und was sind eure Gedanken dazu? Werdet ihr euch auch erstmal Zeit für euch nehmen, nachdem ihr euren Schulabschluss in der Tasche habt? Habt ihr bereits euer Gap Year hinter euch? Teilt mir gerne eure Erfahrungen, Erlebnisse und Anregungen dazu mit!

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